„Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.“ bemerkte Odo Marquard in seiner Rede zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum in Freiburg im Jahr 2004.1 Wir würden in einer Modernisierungswelt mit Veränderungsbeschleunigung leben, die in ihren Fortschritten die lebensweltliche Kultur und ihre Geschichten und Traditionen auszuklammern scheint. Warum hat man den Eindruck, dass technischer Fortschritt bisher tatsächlich wenig mit den wesentlichen Eigenschaften und Bedürfnissen des Menschen zu tun hat und wie können wir das ändern?
Zahlreiche technische Erfindungen basieren auf Innovationsdruck aus Kriegszeiten. So wurde beispielsweise die Radartechnik, die Kryptographie und die Ingenieurswissenschaft in besonderem Maße im Sinne des Angriffs und der Verteidigung betrieben. Die Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben mit einzubeziehen oder gar Entwicklungen die darauf ausgerichtet sind ein positives Leben führen zu können zu fördern ist hier noch nicht denkbar gewesen. So diente auch Alan Turings Arbeit an der Turingmaschine dazu Funksprüche der Kriegsgegner zu entschlüsseln. Es entstanden dabei die Grundlagen der theoretischen Informatik mit Variablen und dem Binärcode.
Turing arbeitete unter großem Zeitdruck, da sich sein Heimatland England und damit sein Auftraggeber im Kriegszustand befand. Ziel war es die Funksprüche der nationalsozialistischen Gegner früh genug zu entschlüsseln um entsprechend handeln zu können. Auch wenn der Krieg in weiten Teilen der westlichen Welt seit vielen Jahren nicht mehr den Alltag der Menschen bestimmt, ist die Maxime der Schnelligkeit uneingeschränkt von großer Bedeutung in der technischen Innovation. Paul Virilio fasst den Gedanken im Film Denker der Geschwindigkeit wie folgt zusammen: „Wenn Zeit Geld ist, dann ist Geschwindigkeit Macht“. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Diktatur der Geschwindigkeit, welche die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und die Welt der Information beherrsche. Er beschreibt hierbei auch die Krise von Raum und Zeit, womit er deutlich macht, dass durch die Schnelligkeit des Computers eine Überforderung des Menschen provoziert werde und Wahrnehmungskategorien wie Entfernungen nicht mehr den realweltlichen Bedingungen entsprechen. Das Verhältnis von Mensch und Technik wandelt sich stark und stetig und wie Marquard es ausdrückt wird der Mensch dabei mit einer beschleunigten Erfahrungsveralterung konfrontiert. Aber nicht nur die Erfahrungen altern schneller auch die menschliche Wahrnehmung bekommt neue Maßstäbe. Während noch in den 1950er Jahren der erste Rechner mit Echtzeitverarbeitung eine zuvor nicht vorstellbare Neuerung gewesen ist, sind heutige Computer zu Leistungen in vom Menschen nicht mehr wahrnehmbaren Bereichen fähig. Dies führte dazu, dass auch die Zeit in immer kleinere Abschnitte eingeteilt wurde: Von der Stunde über die Sekunde bis hin zur Nano-Sekunde und noch kleineren Einheiten. Die Leistungen von Maschinen und die technischen Bedingungen der Lebenswelt ändern sich in immer schneller aufeinander folgenden Phasen, sodass nicht nur die Zeit für eine Gewöhnung fehlt, sondern auch für eine intensive gesellschaftliche Reflexion, welche vermeintlich im Vorfeld hätte stattfinden sollen.
Überlegungen bezüglich der Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben stehen heute vielleicht nicht mehr vornehmlich hinter kriegerischen Motivationen zurück, ohne Zweifel aber hinter wirtschaftlichen. So ist es fraglich wie es sich auf unsere Gesellschaft auswirkt, dass immer mehr Firmen höchst aufwendige Algorithmen nutzen um ihr Angebot an den möglichen Käufer anzupassen. Dies geschieht nicht nur ohne Einbezug einer gesellschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Kontrolle, dies geschieht sogar möglichst vollständig ohne Wissen der Öffentlichkeit. Es findet ein Sammeln von Daten statt bei dem durch Informationen wie Wohnort, Alter, Familienstand und geschätztes Jahreseinkommen gezielt das Kaufverhalten analysiert und geändert werden kann.2 Kaum ein Nutzer von Internetangeboten oder Kreditkarten kann heute noch sicher wissen, in wie weit er von solchen Prozessen beeinflusst ist. Nicht nur Marketingstrategen nutzen derartige Software. Auch Banken urteilen über eine mögliche Kreditwürdigkeit mit Hilfe ähnlicher Informationsstrategien. Hierbei handelt es sich um eine Bewertung von Menschen auf Ebenen die zahlreiche ethische Fragen aufwerfen sollten.
Die Wirklichkeit hat somit eine neue Ebene hinzubekommen. Der Code erlangt eine immer größer werdende Bedeutung für viele Bereiche des menschlichen Lebens. Der Mensch überträgt dabei sehr viel Macht auf die Computer und Maschinen und diese werden immer autonomer. Auch Begriffe wie Realität müssen neu definiert werden, denn immer mehr Reales scheint hinter Modellen zu verschwinden. Die Abstraktion ist eine wichtige Eigenschaft der Sprache des Codes und kann somit als Ursprung einer Hyperrealität verstanden werden. Der Code stellt im Kleinsten eine Ebene dar, die ähnlich wie die DNA größte Wirkung haben kann. Er macht es nicht nur möglich Daten aus der Lebenswelt des Mensch zu sammeln und zu verarbeiten, sondern wird auch genutzt um neue Ebenen von Realität zu erschaffen. Dies kann beispielsweise durch ein möglichst realitätsnahes Nachbilden von Geschehen der Wirklichkeit passieren – eine je nach Vorhaben ausgerichtete Simulation von Bedingungen und Welt. Boudrillard beschreibt darüber hinaus die Möglichkeit der Simulation einer ganz neuen Weise des Seins, wobei künstliche Produkte als Platzhalter für die eigentlichen, natürlichen Dinge dienen können. Dabei verschwinden die Verbindungen von Repräsentation und Realität. Er bezeichnet dies als Simulacra. Ein Simulacra basiert somit auf der Simulation, schreitet aber über das Original hinaus.3
Die Wirklichkeit bekommt hierdurch eine neue Dimension, was darauf hindeutet, dass die Strukturen der Welt, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muss, an Komplexität zunehmen. Diese zunehmende Vielschichtigkeit wird auch im Bereich der Schrift und Zeichen deutlich. Text wird nicht mehr nur linear verwendet, sondern – im Sinne des Hypertextes – mit querverweisenden Links. Die Architektur des Wissens hat sich somit von der Vorstellung einer baumartigen Verästelung hin zu einem verflochtenen Organisationsmodell gewandelt, eine Struktur wie sie Gilles Deleuze in seiner Philosophie als Rhizom bezeichnet. Dieser Aufbau zeichnet sich nicht nur durch die ihm innewohnenden Querverbindungen aus, sondern im Besonderen auch durch seine Modifizierbarkeit.4
In unserem Alltag sind derartige Systeme beispielsweise in Wikipedia lange angekommen und haben die Art, wie wir Wissen suchen und aufnehmen verändert. Auch die Vernetzung über Mobiltelefone hat in den letzten Jahren weiter zugenommen, sodass besonders junge Leute bereits lieber in Form von Textnachrichten kommunizieren, weil diese editier- und optimierbar sind. So beschreibt es Sherry Turkle in ihrem Buch „Alone together“. Auf diese Art sei man nicht dazu genötigt spontan auf einen Gesprächspartner zu reagieren und kann – möglichst genau – seine Antwort an das Bild anpassen, welches man beim Gegenüber hinterlassen möchte. Dieses Image, das man für sich erdenkt und verkörpert möchte, wird immer wichtiger und in sozialen Netzwerken, vornehmlich Facebook, reproduziert und mit Selfies gefüttert. Auch dies sind Zeichen dafür, dass die Individualität immer wichtiger wird, obwohl diese eine vermeintliche Individualität bleibt, da sie sich vielmehr Trends von außen anzupassen scheint, als jenen Wünschen und Wesensarten, die man selbst natürlich verkörpern würde.
So hat das Ideal des Internets, welches als Freiheit bringendes, für alle zugängliches Medium gefeiert worden ist seine tückischen Dimensionen. Aber eben auch zahlreiche Chancen, wie wir sie beispielsweise bei den Revolutionen in der arabischen Welt schon haben aufblitzen sehen. Auch die Möglichkeiten der Interaktivität und Partizipation der neuen Techniken und Medien sind bisher nur marginal ausgenutzt worden und beschränken sich eher auf die Unterhaltungsbranche als auf geisteswissenschaftliche Inhalte, was aber durchaus möglich wäre.
Die unabstreitbar intensiven Entwicklungen führen zu einem Paradigmenwechsel. Begriffe und Denkmodelle der Moderne scheinen revolutioniert und verweisen auf eine mögliche Neubestimmung des aktuellen und zukünftigen Zeitalters hin. Ein Vorschlag hierfür ist nach Alan Shapiro die Bezeichnung Hypermoderne, welche von der Grundlage der Moderne und Postmoderne ausgeht und diese in großen und schnellen Schritten in die Zukunft in vielen Aspekten übertrifft.
Für Gestalter und Forscher bekommen durch diese Entwicklungen transdisziplinäre Arbeitsweisen eine immer größere Bedeutung. Denn die Spezialisierung auf nur ein Wissensgebiet reicht nicht aus um die Phänomene in ihrer Auswirkung zu begreifen. Vielmehr müssen sich die Disziplinen öffnen und sich einer Neubestimmung unterziehen, welche den neuen Bedingungen eher gerecht werden könnte. Gerade Gestalter könnten beispielsweise durch eine Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften neue Erkenntnisse über gesamtgesellschaftliche Auswirkungen bekommen, um mit ihrer Arbeit an den nötigen Schnittstellen anzusetzen. Auch Marshall McLuhan befürwortete bereits einen affirmativen Umgang mit „neuen Medien“, die zwar eine Epoche abschließen, aber in ihren Neuerungen auch Chancen bieten würden.
Diese Chancen gilt es zu nutzen. Ich stelle mir hier allerdings die Frage, inwiefern dies auch in der Arbeit als Designer in der heutigen Wirtschaft möglich ist, denn gerade hier ist man häufig von marktwirtschaftlichen Prozessen abhängig. Die Ausführungen hier sollten eher dazu führen, dass sich der Designer vielmehr als Gestalter der Gesellschaft sehen muss und nicht als verkaufsförderndes Glied in der Marketingkette. Es gilt somit eine große Verantwortung zu übernehmen und ein Berufsbild zu Revolutionieren, aber mit den „neuen Medien“ scheint alles möglich. Warum nicht auch das?
1 Odo Marquard, Skepsis der Moderne. Philosophische Studien, S. 11
2 Siehe hierzu das Beispiel der Firma Target, welche durch das Einkaufsverhalten von Frauen errechnet, ob diese schwanger sein könnte, um daraufhin ihre Werbung anzupassen.
3 Jean Baudrillard, Simulacra and Simulations
4 Gilles Deleuze, Rhizom
Quellen:
Baudrilliard, Jean (1995): Simulacra and Simulation, University of Michigan Press
Deleuze, Gille (1977): Rhizom, Merve Verlag, Berlin
Marquard, Odo (2007): Skepsis der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart, Phillip Reclam jun.
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