Alan N. Shapiro, Hypermodernism, Hyperreality, Posthumanism

Blog and project archive about media theory, science fiction theory, and creative coding

Discover America und die Idee der Baudrillard-Company, von Alan N. Shapiro

Comments Off on Discover America und die Idee der Baudrillard-Company, von Alan N. Shapiro

aus dem Amerikanischen von Andrea Stock

full text just published in the book:

Caroline Heinrich (Hg.),

Jean Baudrillard: Fest für einen Toten

Ventil Verlag, 2015

Baudrillards Amerika ist – um es einmal vorsichtig auszudrücken – nicht wirklich gut angekommen. Die verärgerte Rezeption durch eine Fülle von Kritikern hat erheblich zur negativen Seite von Baudrillards Doppel-Reputation als führender Philosoph einerseits und angeblich unseriöser Lieferant rhetorischer Nichtigkeiten andererseits beigetragen. Noch ein dutzend Jahre nach seiner Übersetzung ins Englische haben Rezensenten auf Mainstream Web-Sites das Buch verrissen. Brian Almquist schrieb bei Amazon.com (2000): „Überraschend unoriginell […], es hat sehr wenig konkreten Gehalt, den man sich durch den Kopf gehen lassen könnte.” Denis Dutton (1990), ein Amerikaner, der in Neuseeland Philosophie unterrichtet, nannte Amerika belanglos, naiv, klischeehaft, vorhersehbar, ignorant und schwülstig.

Doch das Gegenteil ist der Fall: diejenigen von uns, die sowohl xenophobe als auch Kurzschlussreaktionen hinter sich gelassen haben, verstehen Baudrillard als großen Denker – tatsächlich einen der drei oder vier größten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts.

Für uns ist Baudrillards Amerika, das ursprünglich bei dem Pariser Verlagshaus Éditions Grasset et Fasquelle erschienen ist, ein wichtiges Werk – ein Meilenstein der Sozialkritik an den USA durch einen französischen Autor in der Tradition von Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika. Baudrillard führt Tocquevilles Untersuchung fort, indem er 150 Jahre später vielfach die gleichen Fragen über Demokratie, Gleichheit, die Tyrannei der Mehrheit und die zukünftigen Möglichkeiten für Freiheit stellt.

Amerika ist kein rein impressionistischer Reisebericht, sondern vielmehr eine brillante geschichtliche Interpretation der amerikanischen Demokratie und des heutigen Kapitalismus, die auf einer Synthese von politischen Ideen basiert, die aus vielen verschiedenen Strömungen zeitgenössischen Denkens gezogen wurde und insbesondere linken Neo-Marxismus und rechten unternehmerischen Liberalismus mit einbezieht. Und es ist auch eine aktivistische Sozialanalyse – keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, geschweige denn Dichtung.

Ich behaupte, dass die Argumentation in Baudrillards Buch architektonisch strukturiert ist wie ein siebenstöckiges Gebäude – Stock für Stock werden elegant übereinander gebaut.

Erdgeschoss: Worin besteht Baudrillards Kritik an Amerika? Was läuft in Amerika falsch? Die Antworten auf diese Fragen liegen in der von Baudrillard gemachten soziologischen, historischen, politischen, theologischen und ökonomischen Analyse von Amerika. Wie hängt Baudrillards Analyse mit dem, was Alexis de Tocqueville in Über die Demokratie in Amerika schrieb, zusammen? Baudrillard stellt die These auf, dass Amerika eine verwirklichte Utopie sei. Das junge Amerika erbte vom alten Europa das pragmatisch-utopisch historische Projekt der Erschaffung einer idealen Gesellschaft – durch stetes Vorwärtskommen bei der großmütigen Förderung materiellen Wohlergehens, der Demokratie und der individuellen Freiheit. Aber Amerika fehlt das Bewusstsein, das Wissen und die wesentliche Erfahrung der Geschichte des Leidens und des Kampfes, die so viele Menschen in Europa (und anderswo) so intensiv durchlebt haben.

Die verwirklichte Utopie ist eine idealisierte, operative und in hohem Maße herbeigeführte Utopie, ein künstliches Paradies, das durch tausend Punkte blendenden spektakulären Lichts bis hin zur technischen Perfektion repliziert wurde. Sie ist die ausgearbeitete Schichtaufnahme, rekonstruiert aus der abgelenkten Projektion von Modellen und Formeln, die die Gesellschaft der Simulation, Simulacra, Hyperrealität und vorherrschenden techno-wissenschaftliche Virtualität darstellen. Eine weitere Dimension der verwirklichten Utopie ist ihre Allgegenwart im Amerika der selbstgefälligen sektenartigen evangelikalen und politisch-ideologischen Diskurse.

Erster Stock: Amerika ist ein System von Kreisläufen, das ‘Vorrang vor der Realität hat‘ (Das Modell bedingt die Realität, das Modell geht der Realität voraus.).Hier verfasst Baudrillard sehr viel wundervoll geschriebene phänomenologisch poetische Prosa die Argumente an, die den verschiedenen Stockwerken des Gebäudes “Amerika, um die strukturelle Unterstützung herzustellen oder Beweise anzuführen, die dieser Ebene seiner Argumentation zugrunde liegen.

Die beiden wesentlichen Kreisläufe (Marx spricht in seinem Kapital von Waren- und Geldkapital) sind die Mobilität (Autos etc.) und der Bildschirm (Fernsehen etc.) – Geschwindigkeit und Virtualität – das Kinetische und das Filmische. Automobile, nicht Menschen, sind die wahren Einwohner erster Klasse der hypermodernen Megalopolis (wie Marshall McLuhan bereits in den 1960er Jahren schrieb), ebenso wie Computernetzwerke und Medientechnologie.

Der Fernseher, der überall und immer läuft, in Frühstücksräumen von Motels und Warteräumen am Flughafen und im Baseball-Stadion, wo uns genau das Spiel gezeigt wird, das wir uns gerade live anschauen. Was konventionelle Soziologen als Orte sozialer Wirklichkeit betrachten, nämlich die Stellen, an denen sie nach dem Sozialen suchen, hat für Baudrillard keine große Bedeutung. Und damit hat er Recht. Das wirkliche Amerika ist das, was Baudrillard das astrale oder siderische Amerika nennt, das was von den Sternen kommt. Siderische Zeit: Zeit, die durch die „scheinbar tägliche Bewegung des Frühlingsäquinoktium gemessen wird, die der Bewegung der Sterne sehr nahe kommt, aber nicht mit ihr identisch ist.” (Wikipedia)  Das Amerika der reinen Geometrie und Linienvektoren: Die Vertikalität der New Yorker Wolkenkratzer und die Horizontalität der Freeways und der ausgedehnten Geographie in Los Angeles. Was die sozialpsychologische Situation des Individuums betrifft, hebt Baudrillard hervor, dass die Beziehung des Amerikaners zum System der Kreisläufe – das anstelle des Sozialen Anwendung findet – eine angeschlossene oder miteinander verbundene ist.

Zweiter Stock: Zentraler Punkt der Simulation ist das Geheimnis der Verführung oder des symbolischen Austauschs. Im Zentrum von Geschwindigkeit, Kreislauf, Virtualität und Technologie liegen ihre reinen Formen, die, wenn ihre Faszination und Verführungsmöglichkeiten verstanden und erklärt werden, zur Umkehrung und Wandlung ihrer hyperrealen beherrschenden und vorherrschenden Versionen führen. (Heidegger hatte bereits diesen Gedanken hinsichtlich der kommenden Umkehrung oder Wandlung der Technologie).  Das Bloßlegen der reinen Formen der Kreisläufe wird Amerika grundlegend in Frage stellen oder angreifen, zunächst durch die Anziehungskraft, die ihre ausführliche Darstellung für Baudrillard (den Meister-Extraktor) hat, dann im Erblühen der Poesie (griechisch: poiesis, das Machen, das Verfertigen) als einer Form von Aktion. (Vertreter der Kritischen Theorie wie Horkheimer, Adorno und Habermas behaupteten, dass Theorie eine Form der Praxis sei, aber dies trifft mehr auf die Poesie zu.)

In Baudrillards Amerika ist das heimliche Herzstück der Umkehrbarkeit im Imaginären der Wüste eingefangen. Die Wüste ist das andere Amerika, der fundamental fremde Attraktor, der Kontrapunkt zum System. In seinen Darlegungen über die Wüste stellt Baudrillard – in einer Art und Weise, die der des großen wissenschaftlichen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts Gregory Bateson ähnelt – die Unterteilung von akademischem Wissen in Natur- und Geisteswissenschaften grundlegend in Frage. Er  macht den radikalen Schritt, ein Naturphänomen der Wüste – die Geologie und das „wilde Denken“ – mit der Sensibilität seiner literarischen und soziologischen Imagination zu verstehen.

 On the first part of the journey, I was looking at all the life.

There were plants and birds and rocks and things, there was sand and hills and rings.

The first thing I met was a fly with a buzz, and the sky with no clouds.

The heat was hot and the ground was dry, but the air was full of sound.

I’ve been through the desert on a horse with no name, it felt good to be out of the rain.

In the desert, you can remember your name, ’cause there ain’t no one for to give you no pain

(America [popular rock and roll band], 1972).

Es gibt die geologische, karge, heiße Wüste, die sogenannte „natürliche“ Wüste und es gibt die Wüste der semiologischen Codes und Zeichen, die sogenannte „kulturelle“ Wüste, die alles andere als das „kulturelle Ödland“ des Kulturpessimismus ist, wie sie von der Kritischen Theorie vertreten wird. Amerika ist das Land der Medienkonsumenten-Kultur und der Semiologie. Die Wüste ist eine Form der Kultur. Die Wüste ist Amerikas heimliche Wahrheit, ihr Schicksal. „Die Wüste ist keine Landschaft mehr”, schreibt Baudrillard. „sondern reine Form, die aus der Abstraktion aller anderen entspringt” Die Amerikaner wohnen in der Wüste des semiotisch Hyperrealen, ohne dabei genügend Sensibilität für ihre Formbeschaffenheit zu besitzen, sondern beten stattdessen an den Altären des Konsumdenkens, der Arbeit und des Geldes. Diese Beschäftigungen darf man nicht zurückweisen – während sie viele ihrer bestehenden Qualitäten beibehalten, können sie alle in etwas Besseres verwandelt werden. In Der symbolische Tausch und der Tod schreibt Baudrillard treffend über Graffiti in den U-Bahnen und an den Wänden in New York City, dass sie ein „Aufstand der Zeichen“ gegen die herrschende Ordnung von Mitteilungen und Bedeutungen seien.

And the people bowed and prayed to the neon god they made.

And the sign flashed out its warning, in the words that it was forming.

And the sign said, the words of the prophets are written on the subway walls and tenement halls.

And whispered in the sounds of silence

(Simon and Garfunkel, 1965)

Dritter Stock: Der kulturelle Zwilling der Wüste, wie sie im Death Valley sinnbildlich dargestellt ist, ist Las Vegas, Nevada – die Glanz- und Prunkoase inmitten der Mojave Wüste. Las Vegas ist nicht nur das Paradebeispiel für das amerikanische Spielcasino, sondern auch als fundamentale sozial-psychologische Beziehung des Amerikaners zum Netzwerk der Netzwerke zu verstehen, die der Hauptgegenstand der Untersuchung von Baudrillards Soziologie ist – die Beziehung des brancher, des Verbundenseins, des Angeschlossenseins und „Drinseins“.

Vierter Stock: Ein wesentlicher Teil von Baudrillards existentiell-intellektueller Biographie war seine eigene Erfahrung mit den „Befreiungs”-Bewegungen der 1960er und der Beinahe-Revolution der Studenten und Arbeiter in Frankreich im Mai und Juni 1968. Aber diese Bewegungen waren bis etwa 1970 zerschlagen. Nach diesem Rückschlag für die praktische Radikalität, wie er in Interviews mit engen Freunden und Mitarbeitern wie Sylvère Lotringer und François L’Yvonnet erklärt, machte er es zum Ziel seiner Arbeit, sich so weit und so tief wie möglich mit der theoretischer Radikalität zu beschäftigen. In der Folge bezogen sich seine wissenschaftlichen Forschungen auf das Ausfindigmachen von Wurzeln, Grundsätzen, Quellen und der Entstehung der nächsten historischen Runde bei der sozio-kulturellen Herausforderung für das herrschende Establishment – die sich ironischerweise als die Revolutionspraxis innerhalb des kapitalistischen Mainstreams erwiesen hat.

„Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Aktualität des Kapitals in dieser ‚kapitalistischen‘ Gesellschaft läßt sich nicht einholen”, so schreib er in Amerika, „Und  dennoch tun unsere marxistischen Kritiker nicht Unrecht, wenn sie dem Kapital nachlaufen, nur wird es immer einen Vorsprung behalten. Wenn man endlich eine seiner Entwicklungsphasen offengelegt hat, ist es bereits in die nächste eingetreten.” Als historisches Ereignis erfreut sich das Kapital „absoluter Überlegenheit“, und nur durch die wissenschaftlich-fiktionale Vorausberechnung der Zukunft, nur indem man auf dem Kamm der mächtigsten Welle der innovativsten produkt-service-arbeitsablauf-technologischen Entwicklungen und der Kapitalspitze selbst reitet, kann man wahrhaft radikal sein. Nur so kann man das Kapital einholen und das Rennen machen. Nur wenn man Teil der Geschichte des Kapitals wird, Teil der amerikanischen (und europäischen) Wirtschaftsgeschichte, können die kreativen, kritischen und freiheitlichen Werte durch linke Traditionen aufgenommen, weitergegeben und ausgebaut werden.

Fünfter Stock: Was könnte als Beispiel für einen Geschäftsbereich dienen, in dem eine „Baudrillard-Company“ (ich komme später darauf zurück) tätig werden würde? Da wäre die Automobilindustrie – das „Auto der Zukunft“. Marshall McLuhan, einer der großen kanadischen Begründer weltweiter Medientheorie, unternahm in den 1960ern zusammen mit Harold Innis, George Grant, Derrick de Kerckhove und Arthur Kroker einen wegbereitenden unternehmerischen Versuch, in der Geschäftswelt mit seinen profunden Kenntnissen auf den Gebieten Geschichte und Zukunft des Designs, physikalische Umgebungen, Architektur, Stadtplanung, Transportwesen, Mode, Medien, Werbung, Kommunikation, Technologie und Kultur, die er durch seine Tätigkeit als Professor für Geisteswissenschaften und Literatur erlangt hatte, Geld zu verdienen. In seinem Kapitel über das Automobil in Medien Verstehen stellt McLuhan (in abgespeckter Form) die zentrale Idee dessen vor, was einmal das „Auto der Zukunft“ sein wird. Verwandele das Auto in etwas anderes und mach dadurch die Innenstadt bewohnbarer! Gib den Fahrzeugen mehr von ihrem bereits aufkommenden Bewusstseins des künstlichen Lebens!

Wenn Baudrillard sich Amerika ansehen will, fährt er mit dem Auto. Es geht ihm aber nicht darum „Automobilsoziologie oder –psychologie zu betreiben. Es geht darum zu fahren, um mehr über diese Gesellschaft als durch alle wissenschaftlichen Disziplinen zu erfahren.”

Sechster Stock: Ein ganz besonderes Betätigungsfeld der „Baudrillard-Company“ wird in der Film- und Fernsehproduktion liegen. Film und Fernsehen sind die Literatur von heute. In Amerika schreibt Baudrillard viel über die filmische Vorstellungskraft und die damit eng verknüpfte Beziehung zwischen Film und alltäglichem Leben in Amerika. Kino ist überall. Primäre schwerwiegende Strategie: sich mit Amerikas Fiktion zu befassen. Auto fahren und Film. Die Wüste und der Film. Der Western als Genre und sein Verhältnis zum Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern. Fernsehen: Biete eine Alternative zu dem selbstreferentiellen Simulacrum und der Hyperrealität der Nachrichten-Berichterstattung über politische und weltweite Ereignisse! Vergrößere und vertiefe die Magie von Serien mit großer Textualität wie zum Beispiel Star Trek, Lost, 24, Breaking Bad, Mad Men, The Sopranos, Six Feet Under und Buffy – Im Bann der Dämonen! Wenn Baudrillard in seinem Appartement Studenten empfing, saß er mit ihnen vor einem riesigen, ausgeschalteten Fernsehschirm.

 

Comments are closed.