Für Baudrillard sind die heutigen Medien die Produzenten unserer Realität. Sie simulieren für uns eine künstliche Realität, da eine Referenz zu unserer realen Welt zunehmend fehlt. Unser Alltag ist von Nachrichten, Bildern, Sendungen, Spielen, Anwendungen geprägt, die auf Fernsehern, Smartphones, Tablets und sogar Uhren, also auf Displays, stattfinden. Innerhalb von diesen flachen, manchmal schwarzen, aber meist bunt gespielten Objekten spielt sich mehr und mehr unsere virtueller werdene Realität ab. Dieser zweidimensionale Raum will immer häufiger dreidimensional sein. Er schafft dies zwar durch 3D-Brillen und ausgefeilte Technik, bleibt jedoch immer nur eine Kopie statt Körper. Da zwei Dimensionen in unserer Realität praktisch nicht vorkommen, schirmt uns der Bildschirm durch Bilder als Kopien von Objekten und Räumen von der physischen Realität ab.
Onlinespieler, die mit Mitspielern auf der ganzen Welt mit- oder gegeneinander innerhalb einer virtuellen Welt spielen können, sind vermutlich sogar noch mehr vom Reiz des virtuellen statt realen angezogen. Doch
neben Fantasywelten wie in World of Warcraft gibt es auch virtuelle Umgebungen einer uns nachgeahmten Realtiät. In Second Life geht es nicht um das Erreichen eines Spielziels, sondern um die Auslagerung der eigenen Realität in eine virtuelle, vielleicht bessere Realität. Hier spielt man nicht, hier lebt man. Konsum sowie zwischenmenschliche Beziehungen spielen eine große Rolle. Um so viel Einfluss wie möglich auf den Avatar zu bekommen, sind die Einstellungsmöglichkeiten des Charakters enorm. Seine ihn umgebenden Objekte kann der Spieler zudem selbst animieren und hochladen. Auch reale Räume wie Städte wurden zeitweise virtuell nachgebaut. Die sonst üblichen räumlichen und körperlichen Beschränkungen innerhalb eines virutellen Raumes werden immer mehr aufgelöst. Besteht bei den Spielern also das Bedürfnis nach mehr? Nach mehr Körperlichkeit und letztlich auch nach Sinnlichkeit?
Eine neue, körperliche Art mit virtuellen Welten umzugehen, zeigt die Medienwelt des Films Gamer. Das erfolgreiche Unterhaltungsprogramm der dort lebenden Menschen besteht aus zwei Spielen, deren Ablauf live übertragen wird.
Die Spieler steuern Avatare, die diesmal nicht wegen ihrer Einstellungsmöglichkeiten individuell sind, sondern dadurch, dass sie selbst aus Fleisch und Blut sind. Künstliche Nanozellen im Gehirn lassen sie zu willenlosen Wesen werden, deren Sprache und Bewegung vollständig von außen gesteuert wird.
Im Spiel „Slayer“ werden zum Tode verurteilte Straftäter in einem virtuellen Kriegsort aufeinander losgelassen. Die Entscheidungen, die der Spieler trifft, entscheiden für den Avatar um Leben und Tod. Von der virtuellen Situation auf dem Bildschirm des Spielers zur physisch erlebbaren und bedrohlichen Situation innerhalb eines virtuellen Raumes – stellt diese Art von Spiel nicht Baudrillards Verständnis der Medien, die nach ihm nicht existierende, kopierte Räume erschaffen, auf den Kopf? Denn der Schmerz des verwundeten Strafgefangenen ist eigentlich kein Spiel, keine Fiktion, sondern real, er existiert, sowie dessen Tod.
Im Spiel „Society“ können die Avatare durch ihr ferngesteuertsein Geld verdienen. Dort findet eine ganz neue Form von Ausbeutung statt, jene, die den Menschen nicht mehr durch Drohung von Gewalt oder Arbeitslosigkeit zur Arbeit zwingt, sondern durch Kontrollverlust über den eigenen Körper. In dem Moment der Steuerung kann sich der Avatar nicht mehr wehren, wenn er beispielsweise zu sexuellen Handlungen
gezwungen wird.
Die Rolle des den Avatar steuernden Spielers, der geschützt vor seinem Computer sitzt, während eine andere Person in realer Gefahr ist, erinnert mich stark an den Drohnenpiloten, der eine Kampfdrohne auf einem
anderen Teil der Welt steuert. Mit Joystick in der Hand und mehreren Bildschirmen um sich herum sitzt er in einem klimatisierten Container, oft mitten in der Wüste Nevadas, von Stille und Leere umgeben.
Die Bildschirme simulieren zwar nur, im Kriegsgebiet vor Ort zu sein. Allerdings sind die Auswirkungen, die ein Drohnenpilot mit einem Klick auf die Region und die Menschen dort haben kann, hier auch wieder keine
Simulation, keine Fiktion, sondern die harte Realität. Auch den Drohnenpiloten selbst scheint dies bewusst zu sein, denn die Anzahl der posttraumatischen Belastungsstören ist etwa gleich hoch wie derer, die selbst im
Flieger sitzen.
Der Kreis zwischen Videospielen und Drohneneinsätzen schließt sich, seitdem die Bundeswehr auf der Gamescom präsent ist und das MIT herausgefunden hat, dass Videospieler durch ihre schnelle
Entscheidungs- und Multitaskingfähigkeiten als Drohnenpiloten geeignet erscheinen.
Drohnenpiloten berichten trotzdem, sich nicht wie der Spieler eines Computerspiels zu fühlen, sondern eher, als seien sie live beim Geschehen dabei. Durch die Echtzeit-Aufnahmen der Drohne, die der Pilot auf seinen
Bildschirmen sieht, kann er seine baldigen Opfer schon Stunden vor der Tötung beobachten, kann sich anschließend das Ausmaß des Angriffs in aller Ruhe von oben ansehen.
Baudrillard hätte für diese Art der Nutzung des virtuellen Raums vielleicht wieder auf die Kategorie der Repräsentation zurückgreifen müssen. Die Bilder auf dem Display, die die Realität repräsentieren, zeigen das
Ausmaß des eigenen Handelns. Steht dies nicht im krassen Gegensatz zur Werbung, zu Filmen oder zu Nachrichten, deren Bilder unser eigenes Handeln beeinflussen? Was werden die Medien mit dieser Technik
anfangen, außer sie wie bisher für Fotos oder Videos aus einer neuartigen Perspektive zu nutzen? Ist diese Technik ein Hinweis auf eine weitere „Weiter“entwicklung der Moderne, die uns von der Simulation wieder
zur wahren Realität zurückführt? Für eine noch realere Repräsentation der Realität des 10.000 km entfernten Piloten müssten allerdings noch ein Flugsimulator und Geräusche eines Motors und von gelegentlich
explodierenden Bomben her.